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Neue Sanktionen im Bürgergeld: bis zu 100%!

Quelle: www.pexels.com

Mit Kanonen auf Spatzen: Warum 100%-Sanktionen beim Bürgergeld den sozialen Frieden gefährden

Die Bundesregierung plant drastische Verschärfungen bei den Sanktionen im Bürgergeld (bzw. bald “Grundsicherung für Arbeitssuchende) – künftig sollen Leistungskürzungen bis zu 100 Prozent möglich sein, einschließlich der Kosten für Unterkunft und Heizung. Die Begründung: Mehr Menschen sollen schneller in Arbeit gebracht werden. Als Verein, der täglich mit wohnungslosen und von Armut betroffenen Menschen arbeitet, müssen wir klar sagen: Diese Politik wird ihr Ziel nicht erreichen. Im Gegenteil – sie wird Menschen tiefer in die Not treiben und am Ende uns alle teurer zu stehen kommen.

Die Realität hinter den Sanktionen

Unsere Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind zum Glück in den meisten Fällen nah dran an unseren Klientinnen und Klienten. Wir bekommen mit, wenn Aufforderungen zur Mitwirkung kommen, wir helfen beim Verstehen von Bescheiden, wir erinnern an Termine. Aber selbst mit dieser intensiven Begleitung sehen wir täglich, wie schwer es vielen Menschen fällt, den bürokratischen Anforderungen gerecht zu werden.

Es gibt Menschen mit Briefkastenangst. Menschen, die sich nicht aus dem Haus trauen. Menschen, denen selbst der Griff zum Telefon schwerfällt. Menschen mit psychischen Auffälligkeiten, die Termine nicht wahrnehmen können, obwohl sie es wollen. Menschen mit gesundheitlichen Problemen, die administrative Hürden nicht bewältigen können. Menschen, die Bescheide nicht verstehen – weil die Sprache zu kompliziert ist, weil funktionaler Analphabetismus sie daran hindert, weil sie die deutsche Sprache noch nicht ausreichend beherrschen. Und es gibt immer noch Menschen, die nicht digital erreichbar sind, obwohl die Kommunikation mit Behörden zunehmend digitalisiert wird.

Diese Menschen werden keine Arbeit finden, wenn man ihnen das Existenzminimum streicht. Sie werden obdachlos.

Mit Kanonen auf Spatzen

Schauen wir uns die Zahlen an:

  • 2019 (vor Corona und dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts): 806.811 Sanktionen
  • 2022 (während des Sanktionsmoratoriums): 148.488 Sanktionen
  • 2024 (nach Einführung des Bürgergelds): 369.200 Sanktionen

Ja, die Zahl der Sanktionen ist gestiegen. Aber setzen wir sie ins Verhältnis: Bei rund 4 Millionen erwerbsfähigen Bürgergeld-Empfängern sprechen wir von etwa 9 Prozent, die sanktioniert werden. Die allermeisten davon wegen Meldeversäumnissen oder nicht eingereichter Unterlagen – nicht wegen Arbeitsverweigerung.

Wir reden hier nicht von Millionen “faulen” Menschen. Wir reden von Menschen, die überfordert sind, die krank sind, die Hilfe brauchen.

Für diese 9 Prozent – von denen viele nicht aus böser Absicht, sondern aus Überforderung gegen Auflagen verstoßen – soll nun ein System verschärft werden, das bereits jetzt an der Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen operiert? Das ist, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen. Und der Kollateralschaden ist enorm.

Die teure Illusion des Sparens

Was passiert, wenn Menschen zu 100 Prozent sanktioniert werden?

Nach den bisher bekannten Plänen entfällt der Regelsatz von 563 Euro komplett. Ob die Miete weiterhin gezahlt wird, ist unklar – im schlimmsten Fall droht auch hier die vollständige Streichung. Das bedeutet im besten Fall: Kein Geld für Essen, Strom, Hygieneartikel, Medikamente, Busticket. Im schlimmsten Fall: zusätzlich Wohnungsverlust.

Die Folgekosten trägt die Gesellschaft:

  • Mangelernährung und Gesundheitsprobleme bedeuten teurere Behandlungen, Krankenhausaufenthalte, chronische Erkrankungen. Obdachlose Menschen haben eine zwei- bis dreimal höhere Krankheitslast – bei Menschen ohne jegliches Einkommen dürfte es ähnlich aussehen.
  • Möglicher Wohnungsverlust – falls auch die Miete gestrichen wird, landen Menschen in Notunterkünften. Ein Platz kostet 50-80 Euro pro Tag, also 1.500-2.400 Euro pro Monat. Selbst wenn die Miete weitergezahlt wird: Wer kein Geld für Strom hat, kann die Wohnung faktisch nicht nutzen.
  • Soziale Isolation – wer kein Geld hat, kann nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, nicht zum Vorstellungsgespräch fahren, nicht ins Bewerbungscenter.
  • Verzweiflung und mögliche Kriminalität – Menschen, die buchstäblich nichts mehr haben, sehen möglicherweise keine andere Wahl mehr.
  • Verlorene Arbeitskraft – jemand, der in völliger Verzweiflung lebt, wird nicht arbeitsfähiger, sondern arbeitsunfähiger.

Und dann gibt es noch die praktischen Probleme: Wie soll jemand ohne Strom Bewerbungen schreiben? Wie soll jemand ohne Busticket zu Terminen kommen? Wie soll jemand ohne Telefon erreichbar sein für Jobangebote?

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache:

Die geplanten Sanktionsverschärfungen sollen laut Referentenentwurf der Bundesregierung 170 Millionen Euro jährlich “einsparen”. Um diese Summe zu erreichen, müssten etwa 150.000 Vollsanktionen pro Jahr verhängt werden. Zum Vergleich: 2024 gab es insgesamt 369.200 Sanktionen – meist wegen Meldeversäumnissen, nur 23.400 wegen verweigerter Arbeit.

Und jetzt setzen wir diese 170 Millionen Euro ins Verhältnis: Durch Steuerhinterziehung entgehen Deutschland jährlich 100-125 Milliarden Euro. Das ist das 588- bis 735-fache der erhofften “Einsparungen” beim Bürgergeld.

Mit anderen Worten: Wir diskutieren über drakonische Strafen für die Ärmsten, um 0,14 bis 0,17 Prozent dessen einzusparen, was uns durch Steuerhinterziehung verloren geht.

Ein heute beim Bürgergeld gesparter Euro wird morgen zu zehn Euro Mehrkosten im Gesundheits-, Sicherheits- und Sozialsystem. Die vermeintliche Einsparung ist eine teure Illusion.

Sicherheit braucht sozialen Frieden

In der politischen Debatte wird viel über äußere Sicherheit gesprochen – zu Recht. Aber Sicherheit hat auch eine innere Dimension: den sozialen Frieden.

Wenn Menschen spüren, dass die Gesellschaft sie fallen lässt, wenn sie erleben, dass selbst das Existenzminimum nicht mehr garantiert ist, dann entsteht Verzweiflung. Und aus Verzweiflung entstehen soziale Spannungen, Misstrauen, Entfremdung.

Sozialer Frieden entsteht nicht durch Härte, sondern durch Zusammenhalt. Durch das Gefühl, dass niemand aufgegeben wird. Dass es immer einen Weg zurück gibt. Dass Fehler nicht das Ende bedeuten.

Die geplanten Sanktionsverschärfungen senden die gegenteilige Botschaft: Wer nicht mitkommt, wird fallen gelassen. Das ist nicht nur unmenschlich – es ist auch gesellschaftlich kurzsichtig.

Was wirklich helfen würde

Statt Menschen mit existenzvernichtenden Sanktionen zu bedrohen, bräuchte es:

  • Mehr niedrigschwellige Unterstützung für Menschen, die administrative Hürden nicht bewältigen können
  • Aufsuchende Sozialarbeit statt Sanktionsdrohungen für Menschen, die nicht von selbst zu Terminen erscheinen
  • Verständliche Kommunikation von Behörden statt komplizierter Bescheide
  • Investitionen in psychische Gesundheit statt Bestrafung von Menschen mit psychischen Erkrankungen
  • Präventive Hilfen, bevor Wohnraum verloren geht – nicht erst, wenn Menschen obdachlos sind

Das kostet Geld. Aber es kostet weniger, als die Folgen von Wohnungslosigkeit, Krankheit und sozialer Ausgrenzung zu beheben.

Unser Appell

Wir erleben täglich, wie schwer es für viele Menschen ist, in diesem System zurechtzukommen – selbst mit unserer Unterstützung. Wir sehen, dass Armut nicht selbstverschuldet ist. Wir wissen, dass Sanktionen Menschen nicht in Arbeit bringen, sondern sie tiefer in die Krise stürzen.

Die geplanten Verschärfungen sind der falsche Weg. Sie lösen kein Problem, sie schaffen neue. Sie gefährden den sozialen Frieden. Und sie werden uns alle am Ende teurer zu stehen kommen – finanziell und gesellschaftlich.

Eine solidarische Gesellschaft zeigt sich daran, wie sie mit den Schwächsten umgeht. Die aktuellen Pläne zeigen: Wir sind dabei, diesen Kompass zu verlieren.


Janina Baaken

Heimstatt Esslingen e.V.


Quellen:

  • Aktuelle Sozialpolitik: “Zahlen bitte! Sanktionen im Hartz IV- bzw. im Bürgergeld-System” (Januar 2024), Harald Thomé, https://aktuelle-sozialpolitik.de/2024/01/03/zahlen-zu-den-sanktionen-und-einsparungen/
  • ZDF heute: “Debatte ums Bürgergeld: Wer es bekommt, wie oft gekürzt wird und was es kostet” (September 2025), https://www.zdfheute.de/politik/deutschland/buergergeld-grundsicherung-debatte-arbeit-kosten-grafiken-100.html
  • Forschung und Wissen: “Steuerhinterziehung kostet Deutschland 125 Milliarden Euro” (August 2024), Studie der University of London, https://www.forschung-und-wissen.de/nachrichten/oekonomie/steuerhinterziehung-kostet-deutschland-125-milliarden-euro-13379339
  • Hans-Böckler-Stiftung: “Steuerhinterziehung kostet 100 Milliarden” (2014), https://www.boeckler.de/de/magazin-mitbestimmung-2744-steuerhinterziehung-kostet-100-milliarden-5391.htm
  • Deutscher Bundestag: “Informationsaustausch gegen Steuerhinterziehung” (November 2014), https://www.bundestag.de/webarchiv/textarchiv/2014/kw45_de_abgabenordnung-336834
  • Netzwerk Steuergerechtigkeit: “Gerechtigkeitscheck zum Jahresende 2024” (März 2025), https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/gerechtigkeitscheck-zum-jahresende-2024-mein-wort-des-jahres-2025/